Im Gespinst der Träume


                                                      »Fantasie haben heißt nicht, sich etwas auszudenken, 

                                                      es heißt, sich aus den Dingen etwas zu machen.« 

                                                                                                                     (Thomas Mann)


Der Arbeitsplatz von Ines Scheppach ist aufgeräumt, die Buntstifte in Regenbogenformation im breiten Farbkasten aufgereiht. Der Blick vom Zeichentisch geht aus dem Fenster ins urbane Vorstadtambiente, ohne gravierende Anlässe zur Ablenkung. Die bieten eher jene zahllosen, meist eigenen Zeichnungen, welche die Wände zieren, soweit dort keine Bücherregale stehen oder die einen oder anderen Erinnerungsstücke drapiert sind… Auffallend baut sich ein Grafikschrank im Raum auf, in dem sich Ausrisse und –schnitte aus Zeitschriften stapeln – beliebige Motive, vorwiegend Menschen in Situationen. »In der Fülle dessen, was es gibt«, schreibt Ines Scheppach lapidar, »finde ich die Motive. So wie diese sich dann auf dem Papier zusammenfinden, bilden sie etwas Neues, und oft fügt sich Widerstrebendes zu einer Harmonie.« Es geht der Künstlerin, die sich um die Jahrtausendwende mit einer Handvoll Kollegen zu einer Gruppe »Neuer Meister« zusammengetan hat, die sich dem phantastischen Realismus verschrieben haben. Für Ines Scheppach heißt das aber nicht, dass sie der Wirklichkeit völlig enthoben ist. So schreibt sie weiter: »Die Kunst spielt mit der Wirklichkeit auf der Suche nach Wahrheit. Das Phantastische kann man tatsächlich bei der genauen Betrachtung des Vorhandenen entdecken.« So geht sie denn auch vor bei ihrer Arbeit, die zunächst dem Bestand des Sichtbaren zugewandt ist: Sichten, Auswählen, Kombinieren. Was sich daraus machen lässt, entzieht sich dem logischen Zugriff und der wenn auch relativen Gewissheit der Realität. »Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt«, wusste schon Albert Einstein, der es wissen musste. Und so entführt Ines Scheppach den Betrachter in eine Zwischenwelt, die reale Motive und surreale Momente in feinnuancierten Zeichnungen vereint. Als reine Zeichnerin versteht sie sich allerdings nicht. Nicht nur der Einsatz von Ölpastell und Aquarell erzeigt eine eher malerische Wirkung, auch die nichtlineare Schattierungs- und Flächentechnik der Buntstifte erweckt eine illusionistische Darstellung, die gemalten Bildern nahekommen.


Ornament und Symbol. Das Labyrinth kehrt häufig auf im aktuellen Werk von Ines Scheppach. »Die Überlegung«, »Jung und alt«, »Zu sich kommen« und »Dasein« richten den Blick auf die irrigerweise als Irrgärten bezeichneten Wegführungen, die durchaus rätselhaft sind, aber nicht in die Irre leiten sollen. Es geht dabei vielmehr um Wege zum Selbst, das sich in vielen Gesichtern zeigt: hochkomplex und durchaus auch widersprüchlich. In einer Reihe der genannten Bilder, die außergewöhnlich ähnlich aufgebaut sind, stehen Menschen im Zentrum labyrinthischer Systeme, mal mit sich selbst in der Gegenwart, mal mit sich selbst in verschiedenen Zeiten und mal mit einigen Alter egos konfrontiert. Neben solchen geometrischen Mustern tauchen auch chiffrenhafte Formen auf, die gleichermaßen Rätsel aufgeben. »Geborgen im Innern, nach außen offen« zeigt abstrahierte Knospungen und spiralförmige Elemente, die von drei ineinandergreifenden Händen wieder aufgegriffen werden. Abstraktion, Reduktion und Konkretion gehen ineins, als ginge das eine aus dem anderen hervor. In einer zauberhaften Stimmung schildert Ines Scheppach hier die Gestaltwerdung einer Blüte, die in der Mitte des symbolträchtigen Bildes wie selbstverständlich aus dem zarten Grün hervorbricht. Aber auch Zeichnungen wie die »Wellen« sind mehr als szenische Beschreibungen oder Traumgespinste – in einer organisch verfremdeten Architekturlandschaft, deren Dachformen sich wellenartig übers Blatt bewegen, liegen weibliche Rückenakte, im Hintergrund flankiert von einer bekleideten Liegenden, die dem Betrachter zugewandt ist. Ob sie die Träumerin dieses Bildes ist – immerhin scheint sie zu schlafen – oder eine Protagonistin, die sich gegen die Gleichförmigkeit der anderen Mädchen bzw. der Wellen ist, bleibt ungewiss. Es gehört zu den Charakteristika des scheppachschen Werks, dass es Fragen aufwirft – und das nicht, um deren Antworten schuldig zu bleiben, sondern um das Wunder des menschlichen oder überhaupt des Lebens zu propagieren, das sich nie ganz erklärt.


Erzählte Zeit und Erzählzeit. Ines Scheppach hält den Betrachter auf dem Spannungsbogen eines »Es war einmal«. Erinnertes und Gesehenes kommt ins Spiel, erscheint wie durch einen Schleier gesehen. Mythische, symbolische oder visionäre und alltägliche Bilder weisen in die Vergangenheit und zugleich über unsere Zeit hinaus. Wohl fügt sich ihr Schaffen in die Fantasy-Welt ein, die von jeher die Kunstgeschichte begleitet, seit der Jahrhundertwende von 1900 in verstärktem Maß. Hier ist Ines Scheppach ganz zeitlos, die Hintergründe deuten allenfalls vage die Umgebungen an, insofern sind die Bilder auch raumlos. Doch das allein macht das Werk nicht aus. In einigen Fällen findet sie amüsant-ironische Auswege aus der metaphysischen Bekenntnismalerei, wenn sie etwa ihrer Heldin mit einem Minikrokodil auf dem Kopf Artgenossen vom Leibe hält (»Zähmen und einwildern«), in anderen Fällen geraten ihre Fantasiewesen in eine moderne, nüchterne Welt, in der sich zurechtzufinden ein fantasiebegabter Mensch zuweilen Schwierigkeiten bekommt (»Öffentlich«, »Träumen im Gedränge«). Meist ist Ines Scheppach aber die Lust am Bild und an der frei laufenden Erzählung oberste Maxime. Die handelnden Figuren sind selig versunken im Traum (»Versunken«, »Die Mondin«, »Tag und Nacht«, »Das geheime Leben«, »Der Traum des Akrobaten«), fasziniert vom Augenblick (»Kairos, der richtige Moment«, »Die letzte Rose«, »Stadt Land Fluss«, »Schaukeln«, »Ein magischer Moment«, »Flora«), dem Schicksal hingegeben (»Ranken«) oder in fremden Welten des eigenen Ich unterwegs (»Felsen Lehm und Leben II«, »Die geheimnisvolle Felswand«, »Gefühle«). Manche Arbeiten haben ihre Zeit in den Augen Ines Scheppachs gehabt und werden weiter- oder neu erzählt. So kratzt sie Teile einer beschwörenden Gruppe junger tanzender Leute inmitten eines städtischen Trümmerfelds (»Die Berühmten«, Zustand 2009) aus dem Blatt, um den Vordergrund mit einem Blütenpanorama zu versehen (»Die sanfte Kraft der Blüten«, Zustand 2015). Auf einem anderen Bild mit »Ritterspielen« (Zustand 2008) fügt sie einen harlekinesken Ritter von der traurigen Gestalt und eine Dulcinea bei (»Don Quijote und Dulcinea«). Die absurden Requisiten auf diesem Blatt machen die unbändige Phantasie deutlich, mit der die Künstlerin unterwegs ist. Sie erzählt uns Geschichten aus einer Zeit, in der es noch keine Geschichte gab, und sie erzählt uns Geschichten, die zeigen, dass jene alten Geschichten bis heute wirksam sind - wir müssen sie nur annehmen.

                                   

                                                                                                                  Günter Baumann, Februar 2017